Donnerstag, 15. August 2013


Schönstes Wahlplakat des Jahres: Zeigen, wo es lang geht.
Im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf bewirbt sich Karl-Georg Wellmann von der CDU um das Direktmandat für den Deutschen Bundestag. Wie man hört liest sind seine Aussichten ganz ordentlich, seine Bilanz wird selbst vom politischen Gegner kaum kritisiert.

Und dennoch hat er sich den Fauxpas des bisherigen Wahlkampfes geleistet. Wellmann streckt dem Wähler auf seinen Plakaten den Mittelfinger entgegen.

Oben lächelt der Kandidat, unten erinnert die URL an den Internetauftritt, rechts wird „Für Steglitz-Zehlendorf“ geworben, doch links obszöniert der Stinkefinger.


Alle, denen ich dieses Plakat gezeigt habe, reagierten belustigt und (!) fassungslos. Wie kann so etwas passieren? Ich wage einen Erklärungsversuch.

Wahlkampfteams sind exklusive Zirkel. Zwar benötigt jede Partei und jeder Kandidat ein möglichst großes Heer an ehrenamtlich Aktiven (Applaus dafür!), den Kreis der wirklichen Entscheider kann man aber an einer Hand abzählen.

Ob es um die Kandidatenhomepage, den Wahlkampfflyer oder das Plakatmotiv geht, zu Gesicht bekommt das Gros der Wahlkampfhelfer die
Werbemittelchen erst, wenn es zu spät ist.

In der typischen Wahlkampfrunde für das Kandidatenportrait hat man etwa zehn Motive zur Auswahl. Lange wird um das richtige Bild, den korrekten Bildausschnitt und natürlich den schlagkräftigsten Slogan gerungen. Erfahrungsgemäß steht aber nur eines im Mittelpunkt: der bestmöglichstsympathischste Gesichtsausdruck, mit dem man den Wähler zu überzeugen hofft.

Ich kritisiere das nicht, das kann man so machen. So entstehen aber diese eigentlich unverzeihlichen Fehler.


Man es auch anders, besser machen. Nur zwei Beispiele: In den Wahlkampfwikis der Piratenpartei konnten die Mitglieder über Entwürfe diskutieren und sogar eigene Vorschläge hochladen. Die junge CSU-Kandidatin Katrin Albsteiger lies über ihre beiden finalen Plakat-Entwürfe auf Facebook abstimmen.

Beide Wege garantieren, dass ein Stinkefinger-Lapsus so nicht passiert. Beide Wege motivieren darüberhinaus die eigene Anhängerschaft ungemein. Wenn ich das Plakat aufhänge, an dem ich mit gearbeitet habe, über das ich mit entscheiden konnte, macht die ehrenamtliche Arbeit gleich doppelt Spaß.

Viele Menschen sind heute nicht mehr bereit sich langfristig an eine Partei (beliebig ersetzbar: eine Kirche, eine Gewerkschaft, einen Lebenspartner, eine Automarke, etc.) zu binden. Punktuell wollen sie aber mitmachen, mit entscheiden. Das kann man doof finden. Oder aber man öffnet sich dieser stark wachsenden Gruppe.

Letztendlich bedeutet dies Macht- und Kontrollverlust. Nicht mehr ich oder wir wenige bestimmen, sondern viele. Dass dieser Weg zu mehr Transparenz aber alternativlos ist, zeigt sich ganz aktuell im Süden Berlins. Und nicht nur hier, sondern auch hier, hier, hier, hier und hier.


tl;dr: Der Stinkefinger von Steglitz-Zehlendorf ist ist nur vordergündig ein Thema aus der Rubrik Wahlkampf. Eigentlich geht's um Macht und Transparenz. Ein Erklärungsversuch.


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