Samstag, 17. November 2012

GEWALT IM FUßBALL 

Fühlst du dich auch sicher – und hast schon unterzeichnet? 
Wie sieht der Tag eines durchschnittlichen Profifußballfunkionärs in Deutschland aus?

09.30 Uhr: Sekretärin rufen und ihr die neueste Pressemitteilung diktieren. Unbedingt die tolle Atmosphäre in den Stadien erwähnen. Dabei den Satz „Am Wochenende fliegen Fans aus England extra nur für die Bundesliga nach Deutschland“ nicht vergessen.

11.00 Uhr: Telefonkonferenz mit der Stadion-GmbH. Schon wieder sind die Zuschauerzahlen gestiegen. Lerne: Der Anteil an Frauen und Kindern im Stadion ist so hoch wie nie zuvor in der Geschichte des Fußballs. 

13.00 Uhr: Diskussionsrunde in der Aula des örtlichen Gymnasiums mit den Lokalmedien. Die Integrationskraft des Fußballs loben. Herausstreichen, dass in der Jugendabteilung hauptsächlich Migranten für die Vereinserfolge sorgen.

15.30 Uhr: Vorstandstreffen mit dem Vereins-Schatzmeister und dem Marketing-Chef. Einnahmen aus Merchandising und den TV-Geldern erneut explodiert. Wer kauft eigentlich diesen ganzen Blödsinn? Blick nach Fernost nicht verlieren!

18.00 Uhr: Ernste Miene aufsetzen. Im Interview mit BildSpiegelSportschau vor dem Untergang des Abendlandes warnen. Drohkulisse aufbauen (keine Stehplätze mehr, Nacktzelte vor Stadien, mehr Kameraüberwachung, verstärkte Polizeieinsätze, höhere Eintrittspreise, Geisterspiele), um vereinzelte Ausschreitungen und die Pyrotechnik-Abfackelei zukünftig zu unterbinden.

Bisschen schizophren, oder?
Bevor ich richtig in das Thema einsteige, muss ich – um bloß nicht missverstanden zu werden – folgendes loswerden: Ich bin gegen Gewalt. Ich bin wahrscheinlich einer der friedlichsten Menschen und gleichzeitig größten Angsthasen dieses Planeten.
Ich gehe gerne ins Stadion. Nicht immer Profifußball, nein auch Amateur-Kicks in den unteren Ligen schaue ich mir an. Mehr als 200 Spiele sind es sicher gewesen (Memo an mich: Ich muss die mal zusammentragen).

Auch ich habe bei diesen Spielen schon unangenehme Situationen erlebt, aber niemals bin ich Augenzeuge oder gar Opfer von körperlicher Gewalt geworden.

Mit unangenehmen Situationen wurde ich übrigens auch woanders schon konfrontiert: Nachts in der Berliner U- und S-Bahn, bei Partys und in Festzelten, auf Demonstrationen und bei Straßenfesten. Was auf durchschnittlichen Dorffesten so los ist, will ich mir gar nicht vorstellen.

Meine Kritik: Es wird überhaupt nicht mehr differenziert. Das Abbrennen von Pyrotechnik im Stadion wird verbal fast mit dem Raketenbeschuss der Hamas auf Israel verglichen. Auch die ständige Vermischung von Pyrotechnik mit Gewalttaten ist skandalös.

Dabei geht es beim Fußball überwiegend friedlich zu. In der Saison 2010/2011 haben über 13 Millionen Menschen die 306 Bundesliga-Spiele besucht. Die zuständige Polizeistelle, die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) und die Deutsche Fußball-Liga (DFL) sprechen von durchschnittlich 1,38 Leicht- und Schwerverletzten bei diesen Spielen. Der ehemalige DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn behauptet gar, dass bei allen Spielen einer Bundesligasaison weniger Zuschauer verletzt werden, als an einem einzigen Tag beim Münchner Oktoberfest.

Wie einige Vereinsoffizielle, Polizeibehörden, Politiker und Medienvertreter aus diesen Zahlen eine akute Sicherheitsgefahr für Leib und Leben der Zuschauer ableiten und suggerieren, in den deutschen Stadien würden sogenannte Ultras und Hooligans wöchentlich Gewaltorgien zelebrieren, ist vollkommen unverständlich, ja sogar erschütternd. Kein Wunder, dass die Gespräche mit den Fangruppierungen vielerorts ins Stocken geraten sind.

Wie überall im Leben gilt auch im Spannungsverhältnis zwischen den Offiziellen und den Fans das Prinzip der Aktion und der Reaktion. Einseitige verbale Aufrüstung nimmt niemals den Druck aus der Situation. DFB, DFL und die Fußballclubs sollten ernsthaft und ohne Maximalforderungen den Dialog mit den Fans suchen.

Als eine positive Reaktion auf die permanenten Verbalinjurien haben vor zwei Wochen Fans von Borussia Dortmund die übervereinliche Initiative Ich fühl mich sicher gegründet. Über 43.000 Stadiongänger haben dort mittlerweile den Aufruf unterzeichnet, sich im Fußballstadion sicher zu fühlen. (Ich gehöre übrigens zu den allerersten Unterzeichnern und war der erste FC-Bayern-Fan in der Liste.)

Nochmal: Ich möchte tatsächliche Gewalttaten nicht kleinreden. Diese kommen leider auch im  und eigentlich sogar viel häufiger – außerhalb der Stadien vor. Aber Fußballstadien sind keine Kriminalitätshochburgen – das gibt keine Statistik her. Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und kein spezielles Fußball-Thema.

Wir Deutschen müssen auf einer Insel der Seligen leben, wenn die Vorgänge beim Fußball unser größtes Sicherheitsproblem sind. Millionen Fans beweisen Samstag auf Samstag wie faszinierend und friedlich dieser Sport ist. Sind das alles Schläger oder Masochisten, die sich freiwillig in Gefahr begeben? Bitte, Sachlichkeit!


tl;dr: Die Gewaltspirale im Fußball nimmt immer mehr zu? Bullshit! Es geht in deutschen Stadien weit sicherer zu als auf dem Oktoberfest. Ich fordere eine Versachlichung der Debatte.


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